Montag, 22. September 2008

Freitag, 19. September 2008: al Qahira, der kleine Umweg

Mein großes Abenteuer, mit Sack, Pack und Fahrrad auf selbstgesuchten Wegen nach Kairo zu kommen, hat sich als gar kein so großes Abenteuer erwiesen. Aber es war auf jeden Fall spannender, als die dreimal so teure Karte bei einem internationalen Reiseunternehmen zu buchen und alles andere für sich erledigen zu lassen. Habe nach meiner Ankunft schon den ersten abendlichen Spaziergang in diese irre Stadt gemacht und zwei erste beeindruckende Unterschiede zur arabischen Welt in Israel, Westbank, Jordanien oder Sinai festgestellt. Der Verkehr hat tatsächlich erstaunliche Ähnlichkeit mit „Playing Chicken“ oder auch "Wer früher bremst ist blöd". Und die Touristenfänger sind tatsächlich NOCH aufdringlicher und frecher als die in der Jerusalemer Altstadt und die Taxifahrer im Sinai zusammen.
Das urige arabische Viertel neben der Downtown (urig arabisch = grelle Neonröhren und blinkende Lichterketten) gefällt mir viel besser, da werde ich nur angestarrt, als wäre ich grade vom Mond gefallen. Wie in Nablus. Da kann man mit einem fröhlichen „machaba! kif halak?“ (= „Hallo! Wie geht’s dir?“) so viel Eindruck schinden, dass die Leute vor lauter Staunen vergessen, einem das Geld aus der Tasche zu ziehen. Bin auf diese Weise zu einem Abendessen (gefüllte Fladenbrote) für etwa 20 Cent gekommen und zu einer Einladung zum Tee am Straßenrand. Bin gespannt auf die kommenden drei Tage…

11. September 2008: Woche des Lächelns

Heute dauerte mein allabendlicher special quest etwas länger als sonst. Die Schwestern haben seit drei Monaten ein kleines Baby namens Amir, vermutlich ein unehelich geborenes Kind und deswegen darf die Familie der Mutter nichts davon erfahren. Wenn die Schwestern nach dem Abendessen noch ein kurzes Gebet in der Kapelle haben, kriege ich den Amir immer auf den Arm und darf ihn in den Schlaf wiegen. Er hat mein Herz natürlich (wie das von allen anderen) im Sturm erobert, er ist meine absolute Lieblingsaufgabe.  Und heute ist er zweimal wieder aufgewacht, so dass ich ihn dreißig Minuten durchs Haus geschaukelt hab statt fünfzehn. Fand es dann fast schade, dass ich ihn dann doch schon hinlegen konnte… Manchmal, wenn man ein bisschen gibt, kriegt man viel Größeres zurück.
Mit den anderen Kindern war es diese Woche ähnlich. Ich habe viel Zeit an ihren Betten verbracht, mit ihnen geredet, ihre Hände gehalten, sie gestreichelt und lustige Grimassen für sie geschnitten. Das ist etwas, wofür die Schwestern bei aller Liebe und Fürsorge für die Kinder nicht so oft so viel Zeit finden. Das Mädchen Sanabel hat normalerweise immer einen verkniffenen Mund und verzieht keine Miene, sie sieht normalerweise aus wie der schwerste Fall von Dauerdepression, der mir je untergekommen ist. Diese Woche hat sie aber oft gelächelt und gelacht, wenn ich mich zu ihr gesetzt hab – einmal sogar minutenlang. Ich hab das Gefühl, das ist meine eigentliche Aufgabe gewesen, für die ich drei Wochen nach Nablus gekommen bin. Nicht, um den Schwestern das ein oder andere Mal das Füttern abzunehmen, nicht wirklich, um den Schwestern die Arbeit zu erleichtern. Sondern um bei diesen einsamen Kindern zu sein und ihnen zuzulächeln.

Samstag, 6. September 2008

Donnerstag, 4. September 2008: Jeder mit seiner Geschichte

Heute kam Schwester Boshidara aus Amman zu Besuch. Sie ist auch eine Ordensschwester der Mutter Theresa – die Schwestern besuchen sich gern untereinander, das fördert die übergreifende Gemeinschaft und den Weitblick – und außerdem kann man bei der Gelegenheit wichtige christliche Stätten sehen und dort beten. (Glaubst Du nicht? Wirklich, das ist für die Schwestern hier das Allergrößte.) Außerdem hatte Schwester Boshidara selbst einmal einen Monat lang in diesem Haus in Nablus gelebt, bevor sie nach Betlehem und dann Amman ging. Deswegen gab es beim Wiedersehn ein großes Hallo mit jeder einzelnen Schwester.
Ich war schon nach Kurzem sehr beeindruckt von ihr. Sie war unglaublich schwungvoll und fröhlich, aber gleichzeitig sehr aufmerksam, wenn sie mit jemandem sprach. Sie kannte noch von fast allen Kindern die Namen und Eigenheiten. Bei manchen erklärte sie mir, aus welchen familiären Verhältnissen sie stammten – plötzlich konnte ich ihre Ängste, Stimmungen und Charaktere viel besser verstehen. Die immer traurige Leen zum Beispiel (sie hat große dunkle Augenbrauen und kann furchtbar düster gucken und dabei die Stirn runzeln) hat geschiedene Eltern – beide haben wieder geheiratet und keiner von beiden wollte das behinderte Kind mit in die neue Ehe nehmen.
Ich habe mich sehr daran gefreut, wie Schwester Boshidara so jedes Kind als ein ganz einzigartiges Wesen wahrnahm. Und wünschte mir, ich könnte die Kinder noch besser kennen lernen und ihnen in ihrer eigenen Sprache noch mehr von der Liebe geben, nach der sie mit großen Augen schrien.

Mittwoch, 3. September 2008: Eingeladen

Als ich wie üblich um acht Uhr abends „nach Hause“ lief, traf ich auf der Hauptstraße zuerst auf Gabi (im Nahen Osten ein männlicher Vorname), der mir diese Unterkunft bei seinem Schwager vermittelt hatte. Er war gerade dabei, sich einen Kaffee zu kaufen, um den zum Feierabend mit nach Hause zu nehmen, und lud mich (natürlich) ein, mitzukommen. Ich schaffte es, ihn wieder davon abzubringen und verabschiedete mich, um mich schnell in meine eigenen vier Wände zu bringen.
Kurz bevor ich die Haustür erreichte, traf ich allerdings auf Said, ein Freund von Ussamar (Gabis Schwager), der mich einlud, mit zu einem seiner Freunde zu kommen. Ich schaffte es aber nicht ganz so gut wie bei Gabi, ihn abzuwimmeln. Ich handelte ihn müde auf einen Kaffee und eine halbe Stunde runter und gab dann auf. Er nahm mich mit ins Nachbarhaus, wo ich die Familie von Jorge kennen lernte. Ich blieb dreieinhalb Stunden, trank Kaffee und aß Brezel, konnte sie aber davon überzeugen, dass ich kein komplettes Abendessen mehr brauchte.
Am nächsten Morgen, als ich mir bei Ussamar den bereits üblichen (nix zu machen) morgendlichen Kaffee abholte, bekam ich Schelte, wo ich denn gestern Abend gewesen wäre, ich wäre ja gar nicht vorbeigekommen, ob ich sie nicht mehr leiden möge. Allerdings akzeptierte er die Entschuldigung, dass ich bei Jorge gewesen war, anstandslos. Ganz anders als zwei Tage zuvor, als ich einmal gesagt hatte, ich wäre in der Stadt gewesen und hätte in einem Café gesessen und arabischen Tee getrunken. „Café? Warum? Ist doch alles hier, warum kommst du nicht zu uns?!“

Mittwoch, 3. September 2008

Nachtrag: Ramadans keine Zeitumstellung

In Jordanien wird die Sommerzeit übrigens gleichzeitig mit Israel erst nach dem Ramadan zurückgestellt. Die Jordanier sind einfach ein bisschen härter im Nehmen. Aber die trinken ja auch ihren Kaffee komplett ohne Zucker, hab ich gestern auf einer Dachterrasse gelernt. Und das soll bei arabischem Kaffee schon was heißen.

Dienstag, 2. September 2008: Ramadans Zeitumstellung

Morgens halb acht. (Dachte ich zumindest.) Bin aus meinem „Wochenende“ in Jerusalem zurück und will wie gehabt zu meiner Gastfamilie tapern, um den obligatorischen morgendlichen arabischen Kaffee zu absolvieren, bevor ich zu den Schwestern zur Arbeit laufe. Klingel an der Tür und wunder mich, dass sie heute so lange brauchen, um aufzumachen. Dann endlich drückt jemand den Summer, eine verschlafene Stimme fragt verspätet: „Wer…?“ Ich rufe fröhlich „Helge!“ und laufe um die Ecke – in der Küche alles dunkel, die Mutter steht im Schlafanzug im Türrahmen. „Now half past six… because Ramadan.“
Diese Schlingel. Die arabische Sommerzeit endet mit Beginn des Ramadan. So kommt der Sonnenuntergang schneller herbei und man darf endlich wieder essen und trinken. Aber dass das auch in Palästina so gemacht wird, wo man doch in so vielen Dingen noch von den israelischen Besatzern abhängig ist! Wie ist es denn in den Teilen Palästinas, die unter israelischer Verwaltung stehen? Arbeitet da der Israeli von acht bis fünf und der Palästinenser – nun ja, eben auch von acht bis fünf, aber das ganze eine Stunde später? Oder in Ostjerusalem – das hat ja immerhin eine überzeugende Mehrheit von Muslimen, die sich gerne als Palästina verstehen würden. Geh ich dort mal eben runter zum arabischen Markt und es ist ne Stunde früher? (Ist ja eigentlich gar nicht schlecht, das Obst ist also eine Stunde frischer.) Aber die Erlöserkirche liegt ja auch in Ostjerusalem. Findet der Gottesdienst noch zur gleichen Zeit statt? Ja doch, ich erinnere mich an den vergangenen Sommer.
In Wirklichkeit ist es natürlich doch ein bisschen einfacher: Die palästinensische Ramadan-Zeit endet an den festgesteckten Grenzen der palästinensischen „Autonomie“: Die israelischen Siedler behaupten, selbstverständlich, sie seien in Israel und die Muslime in Ostjerusalem fügen sich in die politische Realität, dass sie tatsächlich in Israel sind und hungern schon eine Stunde früher.
Trotzdem. Das ist ja noch überraschender als in Deutschland, wenn man die Zeitumstellung verpennt hat. Ich glaube, ich geh jetzt erst mal meinen Kaffee trinken. Vielleicht sind sie mittlerweile aufgestanden.

Freitag, 29. August 2008

Freitag, 29. August 2008: Nablus, Hotel Jasmin

Für drei Wochen bin ich in Nablus und arbeite bei den Schwestern der Mutter Theresa. Die haben hier ein Haus für schwerstbehinderte Kinder und alte Frauen. Heute ist mein dritter Arbeitstag und ich habe beschlossen, mich in der Stadt nach einer Möglichkeit umzusehen, irgendwo ins Internet zu kommen. Tatsächlich, im Hotel Jasmin gibt es einen wireless-Zugang. Hier sitze ich jetzt also seit zwei Stunden, lese und schreibe E-mails und trinke Schai, den tollen arabischen Tee. Das heißt, so toll ist er gar nicht. Wie immer, wenn man nicht in eines der urigen arabischen Cafés (für verwöhnte deutsche Wohlstandsbürger: Löcher) geht, sondern in irgendein europäisches Flair, kriegt man überhaupt keinen echten Schai. Stattdessen tischen sie einem simplen Teebeuteltee auf. Immerhin mit frischer Minze, das is schon mal mehr als deutsche Cafés bieten. Nu ja, ich bin ja auch nicht zum Tee trinken hergekommen, sondern zum Internet nutzen. Das heißt, eigentlich doch auch zum Tee trinken. Aber beides zusammen geht wohl im Nahen Osten nicht – Schai und Laptop nebeneinander stehen zu sehen, verwirrt das Auge schon beim bloßen Hingucken. Das ging mir vor einem Jahr auch noch nicht so. – „Geh ein Jahr nach Jerusalem, und es wird dich total verändern.“ (Zitat von einem Ehemaligen von Studium in Israel auf der Auswahltagung)

Freitag, 18. Juli 2008

Donnerstag, 17. Juli 2008: Talmud mündlich

Gestern Vormittag, am Donnerstag, habe ich meine mündliche Prüfung vom Talmud-Proseminar gehabt. Dass unser Dozent um halb zehn, zur verabredeten Zeit, gar nicht in seinem Büro war, wunderte mich noch nicht so sehr, man is ja mittlerweile einiges gewöhnt. Es stellte sich dann auch heraus, dass sein Büro eigentlich irgendwo ganz anders war und wir dort, in den hintersten Katakomben des Geisteswissenschaften-Gebäudes, alleine gar nicht hingefunden hätten.
Er drückte mir zu Anfang einen der dicken Talmud-Bände in die Hand. Wir saßen einander gegenüber, jeder einen dieser Schinken auf den Knien, einen Protokollanten oder sonstige Formalitäten brauchte es offensichtlich nicht.
„Hast Du diesen und jenen Text auch gelernt?“
„Oh, nein, das hab ich anders verstanden, nämlich dass wir diesen Text nur inhaltlich kennen, aber nicht übersetzen können sollten.“
„Macht nix“, sagte er, „dann machen wir eben etwas anderes. Hast Du ein Lieblingskapitel bei den Texten, die wir im letzten Semester behandelt haben?“
Jippie, dachte ich innerlich und rief freudestrahlend wie aus der Pistole geschossen: „Ja, gilui daat!“ (Das is ein spezieller Terminus für den Fall, dass ein Mann seiner Frau einen Scheidebrief schickt und dann, während der Scheidebrief auf dem Weg bzw. noch nicht angekommen ist, irgendeine indirekte Äußerung oder Andeutung zu diesem Scheidebrief macht, ihn aber weder eindeutig bestätigt noch annulliert.)
Mit einem ordentlichen Prozentsatz Adrenalin übersetzte ich ihm dann Vers für Vers den aramäischen Talmudtext (natürlich ins Hebräische :P) und erklärte die Bedeutungen und Zusammenhänge.
Bald kamen wir zu einer Stelle mit einem besonders schwierigen aramäischen Wort. Ich behauptete, das „de“ am Anfang des Wortes wäre das Relativpronomen, das dann an das Wort angehängt wird.
„Nein, nein, das gehört zur Wortwurzel!“, rief er aus, stand auf und zückte ein dickes Wörterbuch. „Pass auf, ich zeig es Dir… Moment, wo is es denn…“, und hielt dann einen kleinen Vortrag über die verschiedenen Bedeutungen und Erscheinungsformen dieser Wortwurzel, während ich das Wörterbuch studieren durfte.
Irgendwann hatte er dann genug von gilui daat und ließ mich noch einen anderen Abschnitt beackern. Dort ging es unter anderem um sogenannte mamserim.
„Sag mal zuerst, was sind denn mamserim?“, wollte er zuerst wissen.
„Hm… uneheliche Kinder.“
„Nein, nicht ganz, sondern…“
Aber ich war mittlerweile schon an das orientalische Gesprächstemperament gewöhnt und unterbrach ihn sofort wieder. Wenigstens einen zweiten Versuch wollte ich mir nicht entgehen lassen. „Na gut, dann sind es eben Kinder einer verheirateten Frau, aber mit jemand anders als ihrem eigentlichen Ehemann.“
„Genau!“ Und er strahlte übers ganze Gesicht.
Rundherum zufrieden (wir beide) entließ er mich, nachdem wir so 40 Minuten fröhlich übersetzt, erklärt und diskutiert hatten. Ich bin gespannt, was als Note rauskommt. Auf jeden Fall bin ich schon mal sicher und dankbar, dass ich mich wesentlich besser präsentiert habe als noch im Februar – und wesentlich mehr Spaß hat es auch gemacht.

Freitag, 20. Juni 2008

Donnerstag, 21. Juni 2008: Mauerbauer

Rabbinerin Nava Hefetz von der israelischen Organisation „Rabbis for Human Rights“ hat mit uns eine kleine Tour zu arabischen Stadtteilen gemacht, die sozial und wirtschaftlich besonders schwer durch „die Mauer“ betroffen sind. Ein besonders sinnloses und unschönes Beispiel haben wir westlich von Bet Jallah bei Betlehem gesehen.


Hier sieht man, wie sich die Sperranlage den Hügel herunterschlängelt, direkt an der Straße entlang, oben am Checkpoint noch als Mauer, dann als Zaun – aber lückenlos. Frecherweise, aber bestimmt nicht ungewollt, verläuft sie mitten durch ein großes Grundstück, das einer alteingesessenen arabischen Familie gehört. Rechts in Bet Jallah ist ihr Haus, links von der Straße und dem Zaun ein Feld mit Olivenbäumen. Und von einem Tag auf den anderen konnte die Familie nicht mehr an ihre Oliven, die möglicherweise aber eine wichtige Einkunftsquelle für sie darstellt.
Jetzt gibt es in Israel auch noch ganz irre Rechtsverhältnisse, was Grundstückseigentum angeht. Ein Siedler kann sich quasi überall im Land auf einem Grundstück niederlassen und breit machen, und wenn er nicht innerhalb von einem Monat vom Eigentümer verjagt wird, ist es seins. Dummerweise kann eine Familie, die auf der einen Seite vom Zaun sitzt, nichts gegen irgendwelche kecken Siedler auf der anderen Seite machen, auch wenn die nur 50 Meter entfernt sind… Zum Glück haben sie sich sofort darum gekümmert und mit viel Schweiß und Stress um ihr Grundstück gekämpft. Jetzt dürfen sie wieder auf ihr Feld – mit einem einstündigen Umweg auf jedem Hin- und Rückweg über den Checkpoint. Sofern die Soldaten dort ihnen nicht aus reiner Willkür den Durchgang verwehren.
Betrachtet man das Schicksal vieler anderer Familien, deren Grundstücke durch die Sperranlage halbiert oder auch gleich in Brachland verwandelt wurde, haben sie noch Glück gehabt...

Samstag, 12. April 2008

Samstag, 12. April 2008: Die Vergangenheit liegt vor dir

Hebräisches Denken ist anders. Genauer gesagt, es läuft in eine andere Richtung. Das merkt man nicht nur beim Lesen von rechts nach links. Auch das Zeitverständnis ist auf den ersten Blick verwirrend, denn im hebräischen Denken liegt nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit vor einem.
Im Sprachkurs im Oktober sind wir darüber gestolpert, als unsere Lehrerin Noa uns das Wort lifne „vor“ erklärte. „Das ist eine Präposition sowohl für einen Ort als auch eine Zeit. Ein Mensch kann vor einem stehen oder ich stehe vor einem Geschäft. Genauso mit der Zeit: Der Tag gestern liegt vor mir.“
Allgemeine Verwirrung unter den Studenten breitet sich aus. „Wie, der Tag gestern liegt vor mir? Das muss doch heißen, der liegt hinter mir.“ (Das alles natürlich auf hebräisch.)
„Nein, nein“, wehrt Noa ab, „gestern liegt vor mir. Die Vergangenheit liegt vor mir, denn die kann ich sehen. Die Zukunft liegt hinter mir, in meinem Rücken, denn die kenne ich nicht, die ist für mich nicht sichtbar.“
Schon im Alten Testament wird das deutlich an den ausgeprägten Erinnerungen und Vergegenwärtigungen. Immer wieder wird das Volk Israel dazu ermahnt, seinen Kindern von dem Gott zu erzählen, der sie aus Ägypten geführt hat. „Und wenn eure Kinder zu euch sagen werden: Was habt ihr da für einen Brauch?, sollt ihr sagen: Es ist das Passaopfer des HERRN, der an den Israeliten vorüberging in Ägypten, als er die Ägypter schlug und unsere Häuser errettete.“ (2. Mose 12,26-27) Ein wesentlicher Bestandteil der jüdischen Religion besteht aus dem Vorausblick (eben nicht Rückblick) auf die Taten Gottes, die eben nicht vergangen sind, sondern heute genauso gegenwärtig und gültig.
So wird auch das Pessachfest nächstes Wochenende nicht als Rückblick auf etwas Früheres gefeiert. Die jüdische Familie, die am Pessachabend zusammensitzt, wird vielmehr in die Geschichte Gottes mit seinem Volk hineingenommen, als wenn sie damals dabei gewesen wäre. Ein Auszug aus der Liturgie am Erev Pessach, dem „Vorabend des Pessach“:
„Knechte waren wir dem Pharao in Ägypten, und der HERR unser Gott hat uns von dort mit starker Hand und erhobenem Arm herausgeführt. Und hätte der Heilige, gepriesen sei er, unsere Väter nicht aus Ägypten herausgeführt, so wären wir und unsere Kinder und unsere Kindeskinder weiterhin Knechte des Pharaos.“ (Die Pessach Haggadah, hg.v. Michael Krupp, Jerusalem 2006, S. 18)

Nachtrag von irgendwann im Dez: Entwicklungsländer und entwickelte Länder

Wenn man durch Jerusalems Innenstadt läuft, hat man das Gefühl, in die westeuropäischen 80er Jahre zurückversetzt zu werden. Aus allen Schaufenstern leuchtet, blinkt und springt es einem in allen Neonfarben ins Auge, ob es ein Spielzeugladen, ein Optiker oder ein Handyladen ist (na gut, die gab es damals noch nicht). Israelis lieben Kitsch, Plastik und sowieso alles, was den Trend des Vorjahres überbietet. Fast so sehr wie die Araber. Die Moderne ist in diesem Land noch nicht zu Ende – noch immer wird ausprobiert, was auch immer der Fortschritt nur zu bieten hat.
Diese zwanglose Begeisterung für die moderne westliche Kultur habe ich im Sprachkurs unerwartet in der Sichtweise der globalen Wirtschaft wiedergetroffen. „Es gibt Entwicklungsländer und entwickelte Länder“, erklärte uns unsere Sprachlehrerin unbekümmert. Es widersprach auch niemand. Nacheinander wurden dann unsere Herkunftsländer in diese beiden Kategorien eingeordnet. Japan, China, Sri Lanka, Deutschland, Norwegen… „Israel ist auch ein entwickeltes Land.“ Das war ihr offensichtlich wichtig, denn sie hob die Stimme und den Zeigefinger. Israel sei das einzige Land, das gewissen Ländern finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung zukommen ließe. Auf unsere verwunderten Nachfragen stellte sich dieses Argument als Spaß heraus. Vielleicht wollte sie uns nur irgendeine wichtige Vokabel beibringen. Dann wagte eine Studentin (aus Japan!) den Einwand, dass Israel aber doch eher in der Mitte zwischen den entwickelten und den Entwicklungsländern liege. Das ließ unsere Lehrerin aber nicht gelten, Israels Platz unter den entwickelten Ländern wurde mit Herzblut verteidigt. Fast wie die Studenten im Talmud-Proseminar, wenn es um die Auslegung der Gebote ging. Ob diese einseitige Hochschätzung westlicher Moderne sich hier deswegen länger halten kann, weil Israel sich ständig von den arabischen Nachbarstaaten und -kulturen abheben will?

Montag, 18. Februar 2008

Donnerstag, 14. Februar 2008: Blockseminar-Früchtchen

Von Montag bis Donnerstag hatten wir (zum Glück auf Deutsch) das zweite Blockseminar unseres Studienjahres. Unser Dozent war Prof. Dr. Klaus Wengst aus Bochum. Der stolperte einmal über den Vers „Lobe den Herrn, meine Seele“, der öfter in den Psalmen vorkommt. Statt „Seele“ wollte er viel lieber „Kehle“ übersetzen. Er kritisierte die Tendenz in der Theologie, alles Mögliche immer gleich zu „vergeistigen“, ihm eine geistige, geistliche oder übernatürliche Bedeutung zu geben. „Dabei ist das doch so viel logischer und handfester. Natürlich ist es die Kehle, die Gott lobt und preist! Und nicht eine Seele – wie soll das denn gehen…“
Allerdings kann man auch auf der anderen Seite vom Pferd fallen. Ich habe den Eindruck, dass es in der Theologie der letzten vierzig Jahre viel zu stark Mode geworden ist, alles möglichst materiell und diesseitig zu begreifen. Über das Jenseits, über das Unsichtbare, über Gottes Welt traut sich kaum noch einer was zu sagen. Und die Herrschaft über Herz, Geist und Seele ist weitgehend von Esoterik, New Age und allen möglichen Freestyle-Religionscocktails übernommen worden.
Der eigentliche Fehler liegt aber darin, beide Welten voneinander zu trennen. Das hebräische Wort „näfäsch“ hat nun mal beide Bedeutungen: „Kehle“ und „Seele“ – und nicht nur die. Der ganze Mensch, mit seinen Organen und seinem Wesen, „mit Leib und Seele“, soll ein Lobpreis für Gott sein. Er ist eine Einheit aus vielen Bestandteilen und kann Gott mit vielen Stimmen die Ehre geben. Aber kein Teil ist von diesem Chor ausgeschlossen. Alle Gedanken und Gefühle, alle Körperteile und alle Taten, sein ganzes Leben und alle Einzelheiten – kein Teil, von dem nicht Gott die Ehre und Anbetung gebührt.
Wenn man Luthers Übersetzung nun so versteht, dass der Beter sich mit „meine Seele“ als ganze Person selbst anspricht und auffordert, Gott zu loben (und ihm nicht eine ziemlich philosophische Trennung zwischen „Seele“ und „Körper“ unterstellt), hat er den Sinn des Wortes eigentlich gar nicht so schlecht getroffen…

Montag, 17. Februar 2008: Der Alltag wird nicht langweilig – dank Fahrrad

Da mein Fahrrad keine Schutzbleche hat, muss ich bei Regenwetter immer mit Regenjacke und Regenhose fahren. Sonst werde ich nicht nur von oben, sondern auch von unten nass – und das Wasser von unten ist bei weitem ekeliger als das von oben. Das einzige, was sich naturgemäß schlecht bedecken lässt, ist das Gesicht, deswegen bin ich immer mehr oder weniger gesprenkelt, wenn ich durch den Regen irgendwo ankomme.
So auch heute, als ich zur Uni und danach auf die Auguste Victoria gefahren bin. Eigentlich fahre ich gar nicht so ungern bei Regen, es ist (seltsamerweise) tatsächlich weniger Autoverkehr in der Stadt. Der Schwierigkeitsgrad ist natürlich zwei bis drei Level höher, weil die Autofahrer schlechtere Sicht haben und einen Fahrradfahrer noch weniger wahrnehmen als gewöhnlich – wo man sonst schon in ihrer Wahrnehmung so gut wie nicht existiert. Außerdem gibt es nicht genügend Gullys und auf den Straßen entstehen leicht kleine bis mittelgroße Bäche Regenwasser, die wie auf verzweifelter Suche nach einem Ausgang bergab plätschern.
Ich bin schon gewöhnt, dass hierzulande das Regenwasser auf der Straße so schmierig und dreckig ist, dass die Bremse erst zwei Sekunden verspätet reagiert. Bei einem solchen mittelgroßen Bach hab ich heute auch noch das Phänomen Aquaplaning mit dem Fahrrad kennen gelernt, da hat die Bremse dann überhaupt nichts mehr genützt. Hatte gewisse Ähnlichkeit mit Snowboard fahren. War sehr froh, dass ich mich nicht lang gelegt hab. Das Fahrrad fahren ist und bleibt mein Abenteuerspielplatz in diesem Jahr, der für den hin und wieder nötigen Adrenalinschub zwischen langen Sitzungen am Schreibtisch sorgt.

Mittwoch, 30. Januar 2008

30.1.2008: 10cm Schnee und Jerusalem steht kopf

Als gestern im Wetterbericht der Schnee angekündigt wurde, geriet Jerusalem aus den Fugen. In der Uni, auf der Straße und in den Läden gab es nur noch ein Thema. Hier schneit es ungefähr einmal im Jahr, und es versetzt die ganze Stadt immer in einen seltsamen Ausnahmezustand. Als man uns erzählte, dass bei Schnee die Uni ausfallen würde, glaubte ich es noch nicht so richtig. Aber Tatsache, heute Nacht legte sich eine leise weiße Decke über die Heilige Stadt – und heute Morgen war die Stadt stillgelegt. Es fuhren keine Busse, Schulen und Uni fielen aus, fast alle Läden in der Stadt blieben geschlossen und kaum ein Israeli traute sich vor die Tür. Wegen 10 cm Schnee…
Markus und ich liefen heute Mittag eine halbe Stunde zu Hanan, einem israelischen Studenten, um ihn zu besuchen. Er wunderte sich sehr, dass wir überhaupt vor die Tür gingen, und machte erst recht kugelrunde Augen, als Markus erzählte, man könnte sogar im Supermarkt einkaufen, der habe geöffnet.


Abends lief ich noch hoch auf den Har haZofim, auf dem das Studentendorf ist, weil ich mit zwei Studentinnen verabredet war. Ich wurde von allen Israelis kollektiv als verrückt bezeichnet. Dabei war es ein toller Spaziergang.


Überall auf den Straßen liegen verreckte Regenschirme herum, die dem Wind nicht standhalten konnten.


In der ganzen Stadt fahren Bulldozer (Baufahrzeuge, denn Schneeräumer haben sie hier in Israel nicht, wozu auch) und schieben zehn Zentimeter Schnee vor sich her und kommen sich furchtbar wichtig vor, weil sie „die Straße frei räumen“.

Impressionen in weiß

Hier hab ich die restlichen Fotos reingestellt.

Mittwoch, 2. Januar 2008

Mittwoch, 2. Januar 2008: Weihnachten im Land der eingemauerten Krippen

Weihnachten. Weihnachten an der Quelle, am Ort des Geschehens... und trotzdem, irgendwie viel weniger weihnachtlich als in Ostfriesland. Vielleicht, weil weihnachtlich auch immer ein bisschen das ist, was man seit Jahr und Tag immer gemacht hat. Aber vielleicht auch, weil dieses Land einfach ein jüdisches Land ist und mit christlichen Festen nicht sooo viel am Hut hat - und auch nicht haben möchte. Ich hatte sogar gewisse Schwierigkeiten, mir einen Weihnachtsbaum zu organisieren. Bei der Kirchengemeinde konnte ich dann schließlich einen kaufen, sogar für nur umgerechnet 8,50 Euro. Und wo er mir jetzt das Zimmer einen guten Schwung gemütlicher macht ("wie glänzt er festlich, lieb und mild"), bin ich auch mächtig stolz auf ihn.
Mein persönlicher absoluter Höhepunkt waren übrigens die Advents- und Weihnachtslieder, vor allem die in den vier Adventsgottesdiensten. Am dritten Advent "Tochter Zion" (Zion ist ja ein anderer Name für Jerusalem!) mitten in der Jerusalemer Altstadt zu singen, war einfach unschlagbar. Ich hab schon hinten in der Kirche an Eingang gestanden, weil ich immer direkt nach der Predigt los muss zum Sprachkurs in der Uni. Das war auch gut so, denn ich hab so gefeiert und getanzt, dass ich die anderen Gottesdienstbesucher wohl ziemlich irritiert hätte, wenn sie mich hätten sehen können.
Am Heiligabend haben wir mit einigen christlichen und einigen jüdischen Studenten zusammen gegessen, ein paar Lieder gesungen und sogar die Weihnachtsgeschichte gelesen. Das fanden vor allem die Juden sehr interessant. Wir Deutschen waren uns nachher einig, dass wir uns doch ziemlich in der Fremde fühlen hier - und dass die paar Weihnachtslieder, die wir mehr schräg als recht mit meiner Gitarre gesungen haben, einem doch erstaunlich viel Weihnachten geben. Je weniger man hat, desto kostbarer wird das Wenige.
Danach sind wir in einen proppevollen deutsch-arabisch-englisch-hebräischen Weihnachtsgottesdienst in die Kirche gegangen. Nachts sind wir in zweieinhalb Stunden auf Schafhirtens Spuren nach Bethlehem gelaufen. Allerdings durchbrechen die 8 Meter hohe graue Betonmauer zwischen Israel und Palästina und die kahlen Wellblechhallen am Checkpoint die weihnachtliche Stimmung gnadenlos. Man wusste nicht so recht, ob man sagen sollte "so ein Unfrieden, obwohl doch Weihnachten ist" oder "Weihnachten, obwohl hier so ein Unfrieden herrscht". Nach einem gemeinsamen Abschluss in der auch überfüllten Bethlehemer Geburtskirche tranken wir noch einen nächtlichen Tee bei einem Freund und um sechs Uhr morgens war ich im Bett. Tatsächlich ein bisschen anders als ich Weihnachten in Deutschland immer gefeiert hab.
Aber im Rückblick - nein, nicht weniger weihnachtlich als die letzten Jahre in Ostfriesland. Weihnachten ist nicht das, was man auf den ersten Blick sieht - vielleicht nicht einmal auf den zweiten. Auch die hohen Herren aus dem Fernen Osten haben den Stall und die Krippe nicht auf Anhieb gefunden. Und als sie sie gefunden haben, werden sie sich mehr als einmal die Augen gerieben haben.

Mittwoch, 2. Januar 2008: Hausarbeiten auf Hebräisch

...nein, nicht 2007... Geht Euch das auch so, dass Ihr den ganzen Januar über immer noch 2007 schreiben wollt?
Ende November hat mich unverhofft und urplötzlich die Realität eingeholt. Im Talmud-Proseminar bekamen wir am Montag einen unscheinbaren weißen Zettel mit einer „Übung“, die offensichtlich aus drei einzelnen Aufgaben bestand. (Das war noch leicht, weil die drei Absätze mit „1.“, „2.“ und „3.“ anfingen – der Rest war schon wieder schwieriger.) Die „Übung“ entpuppte sich als fünfseitige Hausarbeit – auf Hebräisch. Zwei Wochen Zeit. Ich hatte die Tragweite dieses Zettels noch nicht so richtig verdaut, da kriegten wir am nächsten Tag in der Midrasch-Übung noch einen unscheinbaren weißen Zettel. Er war in fünf Absätze unterteilt und mit „1.“, „2.“, „3.“, „4.“ und „5.“ versehen. Aber bevor ich so richtig Angst kriegen konnte, fanden wir heraus, dass wir hier zum Glück nur zwei Seiten schreiben sollten. Auf Hebräisch. Zwei Wochen Zeit. Na ja. Zwei Wochen, das würde ich doch wohl hinkriegen.
Mit Hilfe des Tutoriums bei unserem Studienleiter Martin Vahrenhorst fanden wir recht schnell alle Bücher und gewannen einen ungefähren Überblick über das, was wir jetzt machen sollten. Als ich nach dem ersten Schrecken dann mal angefangen hatte, kriegte ich richtig Spaß bei der Arbeit. Markus und ich setzten uns einen Nachmittag zusammen und übersetzten den Text der längeren Arbeit. Es ging um - hm, das war gar nicht so leicht rauszufinden. Auf jeden Fall wurden im Text die Verhaltensregeln diskutiert, wie man das Schma’ Israel, sozusagen das jüdische Glaubensbekenntnis, richtig liest. Darf ein Arbeiter, der oben in einem Baum (offensichtlich ein Obstpflücker) oder auf einer Mauer (wahrscheinlich ein Maurer?) sitzt, dort das Schma lesen oder nicht? Und darf jemand, der gerade das Schma liest, sich dabei unterbrechen lassen von jemandem, der ihn grüßt? Und darf er sich nur bei den Absätzen unterbrechen lassen oder sogar mitten in einem Absatz? Und darf er selbst jemanden grüßen - und wenn ja, auch. um jemandem Ehrerbietung zu erweisen, oder nur, um nicht in Gefahr zu geraten, wenn man es bei hohen Herren nicht täte? Ich glaube, ich hab selten so einen Spaß bei einer Hausarbeit gehabt. Ich wurde richtig heiß drauf und konnte es im Sprachkurs immer gar nicht erwarten, wieder nach Hause an den Schreibtisch zu kommen. Unglaublich, was für Adrenalinschübe man kriegt, wenn man seine erste selbst geschriebene Hausarbeitsseite in einer völlig bizarren Sprache vor sich sieht. Der Brustkorb schwillt wie von selbst auf das doppelte Volumen vor lauter Stolz...
Nu ja, die Zeiten änderten sich auch wieder. Ich konnte es nicht lassen, am ersten Wochenende mit auf die Wanderung der Erlöserkirche in den Negev zu gehen. Und am zweiten Wochenende flog uns ganz spontan eine Einladung der Dormitio (dem anderen deutschen Studienprogramm) in den Mailkasten, doch mit auf die Tagesfahrt nach Jericho zu kommen. Als so langsam die beiden Fristen von ferne zu winken begannen, merkte ich (wie immer im letzten Viertel einer Hausarbeit, haha), wie viel man innerhalb eines Tages arbeiten kann. Die Nächte wurden immer kürzer, der Frust immer größer.
Den Tiefpunkt erreichte ich am Samstag Nachmittag vor dem ersten Advent. Um mich abzureagieren, tat ich etwas, was ich noch nie getan hab. Ich ging einkaufen. Aus Frust. Ich kannte mich selbst nicht wieder. Na ja, eigentlich ging ich nur auf den Adventsbasar der Erlöserkirche. Aber ich kaufte mich in einen richtigen Kaufrausch. Vermutlich, weil ich nicht genug geschlafen hatte und nicht mehr wusste, was ich tat. Neben einigen anderen Sachen hier meine persönlichen Favoriten: Ich kaufte alle vier Bände von Rosenius' „Geheimnissen in Gesetz und Evangelium“ für umgerechnet 73ct, weil der Vikar gesagt hatte, das kennt er nicht, das braucht die Bibliothek der Erlöserkirche nicht. Mein Frust wurde ein bisschen gedämpft, dafür regte ich mich jetzt über den Vikar auf. Bildung, wo bist du hin? Außerdem schwatzte mir Miriam, Volontärin an der Erlöserkirche, einen unglaublichen mausgrauen Anzug aus den Dreißiger Jahren für umgerechnet 5 Euro auf. Ich werde zum ersten Mal in meinem Leben der Mode weit voraus sein, wenn dieser Anzug in genau vierzehn Jahren wieder von jedermann getragen wird.
Mit neuem Adrenalin hockte ich mich wieder an meine Arbeiten. Ich ließ ein, zwei Uni-Veranstaltungen, den Chor und ein paar Stunden Schlaf sausen und gab beide (fast) rechtzeitig ab. Schon vorletzte Woche bekamen wir die Midrasch-Arbeit zurück, vorgestern die Talmud-Arbeit. Wie unser Studienleiter uns schon vorher prophezeit hatte, gehörten die Arbeiten von uns deutschen Studenten eindeutig zu den besseren. Soll heißen, wenn wir es nur anständig auf Hebräisch ausdrücken könnten, wären wir eigentlich gar nicht so dumm, wie wir in den Unterrichtsstunden immer gucken. Nu ja. Nehm ich doch gerne so hin. Ich hoffe nur, dass die Erwartungen der Lehrer an unsere Abschlussprüfungen jetzt nicht einen größeren Sprung nach oben gemacht haben.
Ich sitze grade an einem Rechner in der Uni. Jetzt habe ich noch zwei Stunden Sprachkurs, dann fahr ich wieder nach Hause. Da gibt es Tee. Und die nächste Hausarbeit. Haben wir letzte Woche im Midrasch-Kurs gekriegt. Freu mich schon drauf. Ja, ehrlich. Ist nämlich nur eine. Im Talmud-Kurs kriegen wir die nächsten zwei Wochen erst mal keine. Hab extra nachgefragt.

Dienstag, 1. Januar 2008

Dienstag, 1. Januar 2008: Barucha haSchana

…und schwupps war’s auch schon wieder rum. Und auch ohne dass man es so richtig vorhatte, drängen sich einem doch die Bilder des Vergangenen wieder auf. Ziehen noch einmal vorbei, bevor sie vom unausweichlichen neuen Jahr dem Erinnern und Vergessen anheim geschickt werden.
Wie meistens reicht mein Gedächtnis nicht wirklich weit zurück... für alles, was noch in Deutschland passiert ist, muss ich mich schon richtig anstrengen. Auch der Sommersprachkurs ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Dagegen bin ich noch voller Bilder und Erinnerungen der letzten Wochen. Vom 15. bis 27. Dezember kam Carola zu Besuch. Der 24-Stunden-Ausflug nach Akko war wieder mal ein kleines Abenteuer für sich. In der Heiligen Nacht sind wir auf den Spuren antiker Schafhirten mit rund 100 Leuten von Jerusalem nach Bethlehem gepilgert. Am zweiten Weihnachtsfeiertag haben wir uns über Stock und Stein des judäischen Gebirges freien Eintritt nach Qumran erklettert und danach noch ein Bad im Toten Meer genommen – bei 20 Grad und strahlend blauem Himmel. Und schließlich haben wir mit elf Leuten, Wein, Käse, Weintrauben und Weißbrot den (gefühlt) kürzesten Silvesterabend meines Lebens abgefeiert. Von der Windmühle aus hat man einen tollen Blick über die Altstadt, so dass wir auch das (gemessen) kürzeste Silvesterfeuerwerk meines Lebens bestaunen konnten. Zu fünft haben wir danach noch zwei Bars in der Innenstadt heimgesucht… als ich nach Hause lief, begrüßte mich schon der erste Vogel. Was wird das Neue bringen? Die Vögel jedenfalls werden das Lied vom letzten Jahr singen. Es veraltet nicht.