Freitag, 2. November 2007

Freitag, 2. November 2007: Lesefrüchte zum Zuhören

An der Universität gab es viele komische ethnologische Klischees. Eins davon war, wie hoch doch die europäische Mathematik bei den alten Kulturvölkern in der Schuld stehe, man brauche sich ja nur die Pyramiden anzuschauen, deren Geometrie einem Respekt und Bewunderung abnötige.
Das ist natürlich als Schulterklopfen getarnte Idiotie. In der Wirklichkeit, die sie abgrenzt, ist die technologische Kultur souverän. Neben der Integralrechnung sind die sieben bis acht Faustregeln der ägyptischen Landmesser die reinste Rechenbrettmathematik.
Jean Malauri schreibt in „Die letzten Könige von Thule“, ein wesentliches Argument für das Studium der interessanten Polareskimos sei die Tatsache, dass man dadurch etwas über den Übergang des Menschen vom Neandertalerstadium zum Steinzeitmenschen lernen könne.
Das ist mit einer gewissen Liebe geschrieben. Aber es ist eine Studie über nicht erkannte Vorurteile.
Jedes Volk, das sich an einer von der europäischen Naturwissenschaft festgesetzten Notenskala messen lässt, steht immer als Kulturverbund höherer Affen da.
Das Notengeben ist sinnlos. Jeder Versuch, die Kulturen nebeneinander zu stellen, um zu bestimmen, welche davon am höchsten entwickelt ist, führt immer nur dazu, dass die westliche Kultur noch einen weiteren beschissenen Versuch unternimmt, den Hass auf ihren eigenen Schatten auf andere zu projizieren.
Es gibt nur eine Art und Weise, eine andere Kultur zu verstehen. Sie zu leben. In sie einzuziehen, darum zu bitten, als Gast geduldet zu werden, die Sprache zu lernen. Irgendwann kommt dann vielleicht das Verständnis. Es wird dann immer wortlos sein. In dem Moment, in dem man das Fremde begreift, verliert man den Drang, es zu erklären. Ein Phänomen erklären heißt, sich davon zu entfernen. Wen ich anfange, mit mir selber oder anderen von Qaanaaq zu reden, habe ich fast wieder verloren, was nie richtig mein gewesen ist.
Wie jetzt auf seinem Sofa, wo ich Lust habe, ihm zu erzählen, weshalb ich an die Eskimos gebunden bin. Dass es mit ihrer Fähigkeit zu tun hat, ohne jeden Zweifel zu leben mit dem Wissen, dass das Dasein sinnvoll ist. Dass es mit der Art und Weise zu tun hat, wie sie in ihrem Bewusstsein mit unvereinbaren Gegensätzen leben, ohne an deren Widersprüchen zugrunde zu gehen oder nach einer vereinfachenden Lösung zu suchen. Dass es mit ihrem kurzen, kurzen Weg zur Ekstase zu tun hat. Weil sie einem Mitmenschen begegnen und ihn so sehen können, wie er ist, ohne zu bewerten und ohne ihren klaren Blick durch Vorurteile trüben zu lassen.
All das drängt es mich, ihm zu sagen. Diesen Drang lasse ich jetzt wachsen. Ich spüre, wie er mir aufs Herz, auf den Hals, hinter die Stirn drückt. Ich weiß, dass das so ist, weil ich in diesem Augenblick glücklich bin. Nichts korrumpiert ja so sehr wie das Glück. Es lässt uns glauben, dass wir, wenn wir diesen Moment mit jemandem teilen, auch die Vergangenheit mit einschließen können. Wenn der Mechaniker stark genug ist, mir entgegenzukommen, kann er wohl auch meine Kindheit in sich aufnehmen.
Dann lasse ich los. Der Drang zu erzählen ist eine Spannung. Sie steigt empor und verschwindet durch die Decke, und der Mechaniker wird nie auch nur ahnen, dass sie existiert hat.
(Peter Hoeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee, 3. Teil, Kap. 1)

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