Mittwoch, 24. Oktober 2007

Mittwoch, 24. Oktober 2007: Lesefrüchte zum Zuhören

Er kocht für uns.
Es ist eine Art Gesetzmäßigkeit. Wenn man sich bei Leuten wohl fühlt, landet man in der Küche. In Qaanaaq wohnten wir in der Küche. Hier begnüge ich mich damit, in der Tür zu stehen. Seine Küche ist zwar geräumig, aber er füllt sie auch allein ganz gut aus.
Manche Frauen können Soufflé machen. Haben zufällig gerade ein Rezept für Mokkaparfait in ihrem Sport-BH. Können mit der einen Hand ihre Hochzeitstorte schichten und mit der anderen Pfeffersteak Nossi Bé machen.
Darüber sollten wir uns alle freuen. Solange das nicht heißt, dass wir anderen ein schlechtes Gewissen haben müssen, weil wir noch nicht mal mit unserem elektrischen Toaster auf du und du sind.
Er hat einen Berg von Fischen und einen Haufen Gemüse da. Lachs, Makrele, Dorsch, verschiedene Plattfische. Zwei große Krebse. Schwänze, Köpfe, Flossen. Außerdem Mohrrüben, Zwiebeln, Lauch, Wurzelpetersilie, Fenchel, Topinambur.
Er wäscht und kocht das Gemüse.
Ich erzähle von Ravn und Kapitän Telling.
Er setzt Reis auf. Mit Kardamon und Sternanis.
Ich erzähl ihm von den Vertraulichkeitsklauseln, die ich unterschrieben hab.
Von den Berichten, die Ravn hatte.
Er seiht das Gemüsewasser und kocht die Fischstücke.
Ich erzähle von den Drohungen. Davon, dass sie mich jederzeit verhaften können.
Er nimmt die Fischstücke nacheinander heraus. Von Grönland her erinnere ich mich gut daran. Aus der Zeit, als wir uns zum Essen kochen Zeit nahmen. Fisch hat ganz unterschiedliche Garzeiten. Dorsch ist sofort weich. Makrele später, Lachs noch später.
„Ich habe Angst vor dem Eingesperrt sein“, sage ich.
Die Krebse gibt er zuletzt hinein. Er lässt sie höchstens fünf Minuten mitkochen.
In gewisser Weise bin ich erleichtert darüber, dass er nichts sagt, mich nicht ausschimpft. Er ist der einzige, der weiß, wie viel wir wissen. Wie viel wir jetzt vergessen müssen.
Ich halte es für notwendig, ihm das mit der Klaustrophobie näher zu erklären.
„Weißt du, was hinter der Mathematik steckt?“, frage ich. „Hinter der Mathematik stecken die Zahlen. Wen mich jemand fragen würde, was mich richtig glücklich macht, dann würde ich antworten: die Zahlen. Schnee und Eis und Zahlen. Und weißt du, warum?“
Er knackt die Scheren mit einem Nussknacker und zieht das Fleisch mit einer gebogenen Pinzette heraus.
„Weil das Zahlensystem wie das Menschenleben ist. Zu Anfang hat man die natürlichen Zahlen. Das sind die ganzen und positiven. Die Zahlen des Kindes. Doch das menschliche Bewusstsein expandiert. Das Kind entdeckt die Sehnsucht, und weißt du, was der mathematische Ausdruck für die Sehnsucht ist?“
Er gibt Rahm und ein paar Tropfen Apfelsinensaft in die Brühe.
„Es sind die negativen Zahlen. Die Formalisierung des Gefühls, dass einem etwas abgeht. Und das Bewusstsein erweitert sich immer noch und wächst, und das Kind entdeckt die Zwischenräume. Zwischen den Steinen, den Moosen auf den Steinen, zwischen den Menschen. Und weißt du, wohin das führt? Zu den Brüchen. Die ganzen Zahlen plus die Brüche ergeben die rationalen Zahlen. Aber das Bewusstsein macht dort nicht Halt. Es will die Vernunft überschreiten. Es fügt eine so absurde Operation wie das Wurzel ziehen hinzu. Und erhält die irrationalen Zahlen.“
Er backt die Baguettes im Ofen auf und füllt Pfeffer in eine Mühle.
„Es ist eine Art Wahnsinn. Denn die irrationalen Zahlen sind endlos. Man kann sie nicht schreiben. Sie zwingen das Bewusstsein ins Grenzenlose hinaus. Und wenn man die irrationalen Zahlen mit den rationalen zusammenlegt, hat man die reellen Zahlen.“
Ich bin in die Küche getreten, um Platz zu haben. Man hat so selten die Möglichkeit, sich einem Mitmenschen zu erklären. In der Regel muss man darum kämpfen, zu Wort zu kommen. Und das hier liegt mir wirklich am Herzen.
„Es hört nicht auf. Es hört nie auf. Denn jetzt gleich, auf der Stelle, erweitern wir die reellen Zahlen um die imaginären, um die Quadratwurzeln der negativen Zahlen. Das sind Zahlen, die wir uns nicht vorstellen können. Zahlen, die das Normalbewusstsein nicht fassen kann. Und wenn wir die imaginären Zahlen zu den reellen Zahlen dazurechnen, haben wir das komplexe Zahlensystem. das erste Zahlensystem, das eine erschöpfende Darstellung der Eiskristallbildung ermöglicht. Es ist wie eine große, offene Landschaft. Die Horizonte. Man zieht ihnen entgegen, und sie ziehen sich immer wieder zurück. Das ist Grönland, und das ist es, ohne das ich nicht sein kann! Deshalb will ich mich nicht einsperren lassen.
Auf einmal bin ich vor ihm gelandet.
„Smilla“, sagt er. „Darf ich dich küssen?“
Wir machen uns wohl alle ein Bild von uns. Ich habe mich immer als Grobian mit großer Klappe gesehen. Jetzt weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich habe das Gefühl, dass er mich verraten hat. Nicht so zugehört hat, wie er es hätte tun sollen. Dass er mich im Stich gelassen hat. Andererseits tut er ja nichts. Er behelligt mich nicht. Er steht vor den dampfenden Töpfen und schaut mich nur an.
Mir fällt keine Antwort ein. Ich stehe bloß da und habe keine Ahnung, was ich mit mir anfangen soll, der Augenblick ist da, und dann ist er glücklicherweise vorbei.
(Peter Hoeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee, Buch 2, Kap. 1)

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