Freitag, 19. Oktober 2007

22. September 2007: Yom Kippur

Yom Kippur ist der höchste Festtag im jüdischen Jahreskalender. Es ist der Tag, an dem Gott Gericht hält über das letzte Jahr und die guten und die bösen Taten der Juden gegeneinander abwägt. Deshalb trägt man an diesem Tag ausschließlich schwarz und weiß - noch konsequenter als bei uns am Karfreitag.
Ich bin mit Markus und Martin am Vorabend in die Große Synagoge in den Yom-Kippur-Gottesdienst gegangen. Eine ganze Zeitlang dachte ich, es wäre der längste Gottesdienst meines Lebens gewesen - es waren etwa drei Stunden -, aber dann fielen mir die Silvester-Gebetsnächte ein, die ich mit dem Jugendkreis in Ostfriesland schon gemacht hab, die waren doch etwas länger. Aber es zog sich doch ziemlich in die Länge... vor allem ab dem Moment, in dem ich bemerkte, dass ich vermutlich auch noch vom hintersten Ende der riesigen Halle in dem einheitlichen Schwarzweiß einen leuchtenden Farbklecks in der Menschenmasse abgab - ich hatte nämlich in meiner Schusseligkeit ein orangenes Hemd angezogen.

22. September 2007: Yom Kippur


Die meisten religösen Juden finden sich mehr oder weniger mit der Hoffnung ab, dass Gott am Ende ganz sicher gnädig mit seinem Volk sein wird. Unter den Ultraorthodoxen hat sich jedoch unter vielen verschiedenen Sitten eine besonders interessante herausgebildet, um am Ende auf der sicheren Seite zu sein. Eine gewisse Lücke im jüdischen Glauben ist ja dadurch entstanden, dass es seit der Zerstörung Jerusalems 70 n.Chr. keinen Tempel und auch keine Opfer mehr gibt.
Diese Lücke wird teilweise durch das Ritual gefüllt, früh am Morgen von Yom Kippur ein Huhn zu schwingen. Das bedeutet tatsächlich, ein lebendiges Huhn mehr oder weniger liebevoll über dem eigenen Kopf und denen der Familie zu schwingen, um die eigenen Sünden auf das Tier zu laden. Danach wird das Tier geschlachtet und gegessen. Das Ritual wird von vielen Rabbinern abgelehnt, weil es sich eigentlich nicht groß von einem Opfer unterscheidet, und die sind eben ohne Tempel strikt untersagt. Außerdem ist es theologisch ja auch fragwürdig, das Huhn genüsslich zu verspeisen, auf das man gerade seine ganzen Sünden geladen hat. Einige Ultraorthodoxe verschenken das Huhn auch an Arme, statt es selbst zu essen. Eigentlich macht es das aber auch nicht besser, seine Sünden irgendeinem Armen anzudrehen...
Ziel und Zweck dieser Sitte ist es jedenfalls, am Ende des Tages selbst möglichst frei von Sünden dazustehen, um sich durch das große Gericht Gottes retten zu können.
Markus und ich haben uns kühn morgens um sechs aufgemacht und sind ins fromme Viertel Me'a She'arim spaziert, um ein paar Fotos von Hühner schwingenden Ultraorthodoxen zu schießen. Es war nicht ganz so einfach, weil diese erstens gerne unfreundlich zu überhaupt allen Nicht-Ultraorthodoxen sind und zweitens man ja auch noch so viel Pietät besitzt, sich nicht mit der Digicam mitten in so eine religiöse Zeremonie zu stellen... (Wer sich bei www.youtube.com ein bisschen umguckt, findet dort noch mehr und vielleicht auch noch anschaulichere Bilder und Videos.)

Am späten Nachmittag sind wir dann zur Klagemauer gegangen und haben den Gottesdienst dort aus nächster Nähe verfolgt. Die gesprochenen, gesungenen und geschrienen Bitten an Gott, doch bitte gnädig zu sein, werden immer intensiver und emotionaler, je näher die Minute des Sonnenuntergangs rückt. Dann wird ein letztes Mal die Shofar, das Horn geblasen, und der Richtspruch ist gefallen. Schlagartig schlägt die Stimmung in ein wahres Freudenfest um - eine Gruppe nach der anderen stimmt Freudesgesänge und Jubelgeschrei an, bis der Platz vor der Klagemauer wirkt, als hätten sich alle Fußballfans nach dem WM-Spiel um den dritten Platz vom Stuttgarter Schlossplatz schwarz-weiß angezogen und nach Jerusalem gebeamt.

1 Kommentar:

Teado hat gesagt…

Danke für den Einblick!