Montag, 22. September 2008

Freitag, 19. September 2008: al Qahira, der kleine Umweg

Mein großes Abenteuer, mit Sack, Pack und Fahrrad auf selbstgesuchten Wegen nach Kairo zu kommen, hat sich als gar kein so großes Abenteuer erwiesen. Aber es war auf jeden Fall spannender, als die dreimal so teure Karte bei einem internationalen Reiseunternehmen zu buchen und alles andere für sich erledigen zu lassen. Habe nach meiner Ankunft schon den ersten abendlichen Spaziergang in diese irre Stadt gemacht und zwei erste beeindruckende Unterschiede zur arabischen Welt in Israel, Westbank, Jordanien oder Sinai festgestellt. Der Verkehr hat tatsächlich erstaunliche Ähnlichkeit mit „Playing Chicken“ oder auch "Wer früher bremst ist blöd". Und die Touristenfänger sind tatsächlich NOCH aufdringlicher und frecher als die in der Jerusalemer Altstadt und die Taxifahrer im Sinai zusammen.
Das urige arabische Viertel neben der Downtown (urig arabisch = grelle Neonröhren und blinkende Lichterketten) gefällt mir viel besser, da werde ich nur angestarrt, als wäre ich grade vom Mond gefallen. Wie in Nablus. Da kann man mit einem fröhlichen „machaba! kif halak?“ (= „Hallo! Wie geht’s dir?“) so viel Eindruck schinden, dass die Leute vor lauter Staunen vergessen, einem das Geld aus der Tasche zu ziehen. Bin auf diese Weise zu einem Abendessen (gefüllte Fladenbrote) für etwa 20 Cent gekommen und zu einer Einladung zum Tee am Straßenrand. Bin gespannt auf die kommenden drei Tage…

11. September 2008: Woche des Lächelns

Heute dauerte mein allabendlicher special quest etwas länger als sonst. Die Schwestern haben seit drei Monaten ein kleines Baby namens Amir, vermutlich ein unehelich geborenes Kind und deswegen darf die Familie der Mutter nichts davon erfahren. Wenn die Schwestern nach dem Abendessen noch ein kurzes Gebet in der Kapelle haben, kriege ich den Amir immer auf den Arm und darf ihn in den Schlaf wiegen. Er hat mein Herz natürlich (wie das von allen anderen) im Sturm erobert, er ist meine absolute Lieblingsaufgabe.  Und heute ist er zweimal wieder aufgewacht, so dass ich ihn dreißig Minuten durchs Haus geschaukelt hab statt fünfzehn. Fand es dann fast schade, dass ich ihn dann doch schon hinlegen konnte… Manchmal, wenn man ein bisschen gibt, kriegt man viel Größeres zurück.
Mit den anderen Kindern war es diese Woche ähnlich. Ich habe viel Zeit an ihren Betten verbracht, mit ihnen geredet, ihre Hände gehalten, sie gestreichelt und lustige Grimassen für sie geschnitten. Das ist etwas, wofür die Schwestern bei aller Liebe und Fürsorge für die Kinder nicht so oft so viel Zeit finden. Das Mädchen Sanabel hat normalerweise immer einen verkniffenen Mund und verzieht keine Miene, sie sieht normalerweise aus wie der schwerste Fall von Dauerdepression, der mir je untergekommen ist. Diese Woche hat sie aber oft gelächelt und gelacht, wenn ich mich zu ihr gesetzt hab – einmal sogar minutenlang. Ich hab das Gefühl, das ist meine eigentliche Aufgabe gewesen, für die ich drei Wochen nach Nablus gekommen bin. Nicht, um den Schwestern das ein oder andere Mal das Füttern abzunehmen, nicht wirklich, um den Schwestern die Arbeit zu erleichtern. Sondern um bei diesen einsamen Kindern zu sein und ihnen zuzulächeln.

Samstag, 6. September 2008

Donnerstag, 4. September 2008: Jeder mit seiner Geschichte

Heute kam Schwester Boshidara aus Amman zu Besuch. Sie ist auch eine Ordensschwester der Mutter Theresa – die Schwestern besuchen sich gern untereinander, das fördert die übergreifende Gemeinschaft und den Weitblick – und außerdem kann man bei der Gelegenheit wichtige christliche Stätten sehen und dort beten. (Glaubst Du nicht? Wirklich, das ist für die Schwestern hier das Allergrößte.) Außerdem hatte Schwester Boshidara selbst einmal einen Monat lang in diesem Haus in Nablus gelebt, bevor sie nach Betlehem und dann Amman ging. Deswegen gab es beim Wiedersehn ein großes Hallo mit jeder einzelnen Schwester.
Ich war schon nach Kurzem sehr beeindruckt von ihr. Sie war unglaublich schwungvoll und fröhlich, aber gleichzeitig sehr aufmerksam, wenn sie mit jemandem sprach. Sie kannte noch von fast allen Kindern die Namen und Eigenheiten. Bei manchen erklärte sie mir, aus welchen familiären Verhältnissen sie stammten – plötzlich konnte ich ihre Ängste, Stimmungen und Charaktere viel besser verstehen. Die immer traurige Leen zum Beispiel (sie hat große dunkle Augenbrauen und kann furchtbar düster gucken und dabei die Stirn runzeln) hat geschiedene Eltern – beide haben wieder geheiratet und keiner von beiden wollte das behinderte Kind mit in die neue Ehe nehmen.
Ich habe mich sehr daran gefreut, wie Schwester Boshidara so jedes Kind als ein ganz einzigartiges Wesen wahrnahm. Und wünschte mir, ich könnte die Kinder noch besser kennen lernen und ihnen in ihrer eigenen Sprache noch mehr von der Liebe geben, nach der sie mit großen Augen schrien.

Mittwoch, 3. September 2008: Eingeladen

Als ich wie üblich um acht Uhr abends „nach Hause“ lief, traf ich auf der Hauptstraße zuerst auf Gabi (im Nahen Osten ein männlicher Vorname), der mir diese Unterkunft bei seinem Schwager vermittelt hatte. Er war gerade dabei, sich einen Kaffee zu kaufen, um den zum Feierabend mit nach Hause zu nehmen, und lud mich (natürlich) ein, mitzukommen. Ich schaffte es, ihn wieder davon abzubringen und verabschiedete mich, um mich schnell in meine eigenen vier Wände zu bringen.
Kurz bevor ich die Haustür erreichte, traf ich allerdings auf Said, ein Freund von Ussamar (Gabis Schwager), der mich einlud, mit zu einem seiner Freunde zu kommen. Ich schaffte es aber nicht ganz so gut wie bei Gabi, ihn abzuwimmeln. Ich handelte ihn müde auf einen Kaffee und eine halbe Stunde runter und gab dann auf. Er nahm mich mit ins Nachbarhaus, wo ich die Familie von Jorge kennen lernte. Ich blieb dreieinhalb Stunden, trank Kaffee und aß Brezel, konnte sie aber davon überzeugen, dass ich kein komplettes Abendessen mehr brauchte.
Am nächsten Morgen, als ich mir bei Ussamar den bereits üblichen (nix zu machen) morgendlichen Kaffee abholte, bekam ich Schelte, wo ich denn gestern Abend gewesen wäre, ich wäre ja gar nicht vorbeigekommen, ob ich sie nicht mehr leiden möge. Allerdings akzeptierte er die Entschuldigung, dass ich bei Jorge gewesen war, anstandslos. Ganz anders als zwei Tage zuvor, als ich einmal gesagt hatte, ich wäre in der Stadt gewesen und hätte in einem Café gesessen und arabischen Tee getrunken. „Café? Warum? Ist doch alles hier, warum kommst du nicht zu uns?!“

Mittwoch, 3. September 2008

Nachtrag: Ramadans keine Zeitumstellung

In Jordanien wird die Sommerzeit übrigens gleichzeitig mit Israel erst nach dem Ramadan zurückgestellt. Die Jordanier sind einfach ein bisschen härter im Nehmen. Aber die trinken ja auch ihren Kaffee komplett ohne Zucker, hab ich gestern auf einer Dachterrasse gelernt. Und das soll bei arabischem Kaffee schon was heißen.

Dienstag, 2. September 2008: Ramadans Zeitumstellung

Morgens halb acht. (Dachte ich zumindest.) Bin aus meinem „Wochenende“ in Jerusalem zurück und will wie gehabt zu meiner Gastfamilie tapern, um den obligatorischen morgendlichen arabischen Kaffee zu absolvieren, bevor ich zu den Schwestern zur Arbeit laufe. Klingel an der Tür und wunder mich, dass sie heute so lange brauchen, um aufzumachen. Dann endlich drückt jemand den Summer, eine verschlafene Stimme fragt verspätet: „Wer…?“ Ich rufe fröhlich „Helge!“ und laufe um die Ecke – in der Küche alles dunkel, die Mutter steht im Schlafanzug im Türrahmen. „Now half past six… because Ramadan.“
Diese Schlingel. Die arabische Sommerzeit endet mit Beginn des Ramadan. So kommt der Sonnenuntergang schneller herbei und man darf endlich wieder essen und trinken. Aber dass das auch in Palästina so gemacht wird, wo man doch in so vielen Dingen noch von den israelischen Besatzern abhängig ist! Wie ist es denn in den Teilen Palästinas, die unter israelischer Verwaltung stehen? Arbeitet da der Israeli von acht bis fünf und der Palästinenser – nun ja, eben auch von acht bis fünf, aber das ganze eine Stunde später? Oder in Ostjerusalem – das hat ja immerhin eine überzeugende Mehrheit von Muslimen, die sich gerne als Palästina verstehen würden. Geh ich dort mal eben runter zum arabischen Markt und es ist ne Stunde früher? (Ist ja eigentlich gar nicht schlecht, das Obst ist also eine Stunde frischer.) Aber die Erlöserkirche liegt ja auch in Ostjerusalem. Findet der Gottesdienst noch zur gleichen Zeit statt? Ja doch, ich erinnere mich an den vergangenen Sommer.
In Wirklichkeit ist es natürlich doch ein bisschen einfacher: Die palästinensische Ramadan-Zeit endet an den festgesteckten Grenzen der palästinensischen „Autonomie“: Die israelischen Siedler behaupten, selbstverständlich, sie seien in Israel und die Muslime in Ostjerusalem fügen sich in die politische Realität, dass sie tatsächlich in Israel sind und hungern schon eine Stunde früher.
Trotzdem. Das ist ja noch überraschender als in Deutschland, wenn man die Zeitumstellung verpennt hat. Ich glaube, ich geh jetzt erst mal meinen Kaffee trinken. Vielleicht sind sie mittlerweile aufgestanden.

Freitag, 29. August 2008

Freitag, 29. August 2008: Nablus, Hotel Jasmin

Für drei Wochen bin ich in Nablus und arbeite bei den Schwestern der Mutter Theresa. Die haben hier ein Haus für schwerstbehinderte Kinder und alte Frauen. Heute ist mein dritter Arbeitstag und ich habe beschlossen, mich in der Stadt nach einer Möglichkeit umzusehen, irgendwo ins Internet zu kommen. Tatsächlich, im Hotel Jasmin gibt es einen wireless-Zugang. Hier sitze ich jetzt also seit zwei Stunden, lese und schreibe E-mails und trinke Schai, den tollen arabischen Tee. Das heißt, so toll ist er gar nicht. Wie immer, wenn man nicht in eines der urigen arabischen Cafés (für verwöhnte deutsche Wohlstandsbürger: Löcher) geht, sondern in irgendein europäisches Flair, kriegt man überhaupt keinen echten Schai. Stattdessen tischen sie einem simplen Teebeuteltee auf. Immerhin mit frischer Minze, das is schon mal mehr als deutsche Cafés bieten. Nu ja, ich bin ja auch nicht zum Tee trinken hergekommen, sondern zum Internet nutzen. Das heißt, eigentlich doch auch zum Tee trinken. Aber beides zusammen geht wohl im Nahen Osten nicht – Schai und Laptop nebeneinander stehen zu sehen, verwirrt das Auge schon beim bloßen Hingucken. Das ging mir vor einem Jahr auch noch nicht so. – „Geh ein Jahr nach Jerusalem, und es wird dich total verändern.“ (Zitat von einem Ehemaligen von Studium in Israel auf der Auswahltagung)