Samstag, 12. April 2008

Samstag, 12. April 2008: Die Vergangenheit liegt vor dir

Hebräisches Denken ist anders. Genauer gesagt, es läuft in eine andere Richtung. Das merkt man nicht nur beim Lesen von rechts nach links. Auch das Zeitverständnis ist auf den ersten Blick verwirrend, denn im hebräischen Denken liegt nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit vor einem.
Im Sprachkurs im Oktober sind wir darüber gestolpert, als unsere Lehrerin Noa uns das Wort lifne „vor“ erklärte. „Das ist eine Präposition sowohl für einen Ort als auch eine Zeit. Ein Mensch kann vor einem stehen oder ich stehe vor einem Geschäft. Genauso mit der Zeit: Der Tag gestern liegt vor mir.“
Allgemeine Verwirrung unter den Studenten breitet sich aus. „Wie, der Tag gestern liegt vor mir? Das muss doch heißen, der liegt hinter mir.“ (Das alles natürlich auf hebräisch.)
„Nein, nein“, wehrt Noa ab, „gestern liegt vor mir. Die Vergangenheit liegt vor mir, denn die kann ich sehen. Die Zukunft liegt hinter mir, in meinem Rücken, denn die kenne ich nicht, die ist für mich nicht sichtbar.“
Schon im Alten Testament wird das deutlich an den ausgeprägten Erinnerungen und Vergegenwärtigungen. Immer wieder wird das Volk Israel dazu ermahnt, seinen Kindern von dem Gott zu erzählen, der sie aus Ägypten geführt hat. „Und wenn eure Kinder zu euch sagen werden: Was habt ihr da für einen Brauch?, sollt ihr sagen: Es ist das Passaopfer des HERRN, der an den Israeliten vorüberging in Ägypten, als er die Ägypter schlug und unsere Häuser errettete.“ (2. Mose 12,26-27) Ein wesentlicher Bestandteil der jüdischen Religion besteht aus dem Vorausblick (eben nicht Rückblick) auf die Taten Gottes, die eben nicht vergangen sind, sondern heute genauso gegenwärtig und gültig.
So wird auch das Pessachfest nächstes Wochenende nicht als Rückblick auf etwas Früheres gefeiert. Die jüdische Familie, die am Pessachabend zusammensitzt, wird vielmehr in die Geschichte Gottes mit seinem Volk hineingenommen, als wenn sie damals dabei gewesen wäre. Ein Auszug aus der Liturgie am Erev Pessach, dem „Vorabend des Pessach“:
„Knechte waren wir dem Pharao in Ägypten, und der HERR unser Gott hat uns von dort mit starker Hand und erhobenem Arm herausgeführt. Und hätte der Heilige, gepriesen sei er, unsere Väter nicht aus Ägypten herausgeführt, so wären wir und unsere Kinder und unsere Kindeskinder weiterhin Knechte des Pharaos.“ (Die Pessach Haggadah, hg.v. Michael Krupp, Jerusalem 2006, S. 18)

Nachtrag von irgendwann im Dez: Entwicklungsländer und entwickelte Länder

Wenn man durch Jerusalems Innenstadt läuft, hat man das Gefühl, in die westeuropäischen 80er Jahre zurückversetzt zu werden. Aus allen Schaufenstern leuchtet, blinkt und springt es einem in allen Neonfarben ins Auge, ob es ein Spielzeugladen, ein Optiker oder ein Handyladen ist (na gut, die gab es damals noch nicht). Israelis lieben Kitsch, Plastik und sowieso alles, was den Trend des Vorjahres überbietet. Fast so sehr wie die Araber. Die Moderne ist in diesem Land noch nicht zu Ende – noch immer wird ausprobiert, was auch immer der Fortschritt nur zu bieten hat.
Diese zwanglose Begeisterung für die moderne westliche Kultur habe ich im Sprachkurs unerwartet in der Sichtweise der globalen Wirtschaft wiedergetroffen. „Es gibt Entwicklungsländer und entwickelte Länder“, erklärte uns unsere Sprachlehrerin unbekümmert. Es widersprach auch niemand. Nacheinander wurden dann unsere Herkunftsländer in diese beiden Kategorien eingeordnet. Japan, China, Sri Lanka, Deutschland, Norwegen… „Israel ist auch ein entwickeltes Land.“ Das war ihr offensichtlich wichtig, denn sie hob die Stimme und den Zeigefinger. Israel sei das einzige Land, das gewissen Ländern finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung zukommen ließe. Auf unsere verwunderten Nachfragen stellte sich dieses Argument als Spaß heraus. Vielleicht wollte sie uns nur irgendeine wichtige Vokabel beibringen. Dann wagte eine Studentin (aus Japan!) den Einwand, dass Israel aber doch eher in der Mitte zwischen den entwickelten und den Entwicklungsländern liege. Das ließ unsere Lehrerin aber nicht gelten, Israels Platz unter den entwickelten Ländern wurde mit Herzblut verteidigt. Fast wie die Studenten im Talmud-Proseminar, wenn es um die Auslegung der Gebote ging. Ob diese einseitige Hochschätzung westlicher Moderne sich hier deswegen länger halten kann, weil Israel sich ständig von den arabischen Nachbarstaaten und -kulturen abheben will?